Frau am See

Die Trauer als Ausdruck der Liebe

Amel Laria­ni

„Hal­lo Amel, weißt Du es schon? Jas­min ist letz­te Nacht gestor­ben, sie hat­te einen Auto­un­fall.“ Mit die­sen Wor­ten wur­de mir mit­ge­teilt, dass mei­ne bes­te Freun­din nicht mehr unter uns weilt. Ich woll­te es nicht glau­ben und dach­te, es sei ein schlech­ter Scherz. Ges­tern hat­te ich noch mit ihr tele­fo­niert. Wir haben Plä­ne für April geschmie­det. Was wir uns alles vor­ge­nom­men hat­ten… Das konn­te nicht sein. Sie war prä­sent. Ein­ge­brannt in mei­ner Erin­ne­rung. Ihr Lachen. Ich sah sie vor mir. Ich spür­te sie. Es konn­te nicht sein. Ich konn­te es nicht fas­sen. Woll­te es nicht begrei­fen. Ver­nein­te es. Ich schrie immer wie­der „Nein, dass kann nicht sein.“

Ein hef­ti­ger Schmerz zer­riss mich inner­lich. Er öff­ne­te einen tie­fen Gra­ben in mir, ähn­lich einer klaf­fen­den Wun­de. Die Trä­nen schos­sen aus mir raus, wie ein Platz­re­gen. Mein Gesicht schwoll nach weni­gen Minu­ten an – oder waren es Stun­den? Ich hat­te jeg­li­ches Gefühl für Raum und Zeit ver­lo­ren. Mein Kopf häm­mer­te. Mit­ten aus dem Leben geris­sen. Nein, ich woll­te es nicht glau­ben. Wir hat­ten doch ges­tern noch tele­fo­niert.

Sie woll­te mich am Flug­ha­fen abho­len. Sie hol­te mich immer ab, wenn ich nach Deutsch­land kam. „Wir flie­gen zwei Tage nach Eng­land“, sag­te sie. Das war ges­tern. Ich sah sie vor mir. Ganz deut­lich sah ich sie vor mir. Ihr Lachen. Der zer­zaus­te schwarz-graue Zopf, der mit­ten auf ihrem Kopf rag­te. Ihr blas­ses Gesicht. Ihre unver­kenn­ba­re Art, Wit­ze zu machen. Am liebs­ten nahm sie sich selbst aufs Korn. Sie konn­te über sich selbst lachen. Eine Qua­li­tät, die ich sehr an ihr moch­te. „Ich lie­be dich“, sag­te ich zu ihr und sie sang ein lang­ge­zo­ge­nes „Ich lie­be dich“ zurück.

Es tat so weh.

Sie war weg. Ein­fach nicht mehr da. Ich wür­de sie nie mehr sehen.

Den gan­zen Tag ver­brach­te ich zwi­schen der Ver­nei­nung ihres Todes, einem über­wäl­ti­gen­den Schmerz und der leb­haf­ten Erin­ne­rung unse­res Tele­fo­na­tes. Ich tele­fo­nier­te mit mei­ner Fami­lie, mit jedem aus mei­ner Fami­lie. Alle kann­ten sie und auch sie waren fas­sungs­los.

Es war mei­ne Art, die Nach­richt zu ver­ar­bei­ten. Ich teil­te mei­nen Schmerz. Da ich tau­sen­de von Kilo­me­tern ent­fernt von mei­nen Lie­ben lebe, war ich unend­lich dank­bar, dass es die Mög­lich­keit der Video­te­le­fo­na­te gibt. Dadurch fühl­te ich mich nicht allei­ne in mei­ner Trau­er.

Am Abend fiel ich völ­lig aus­ge­laugt in mein Bett, in dem ich die nächs­ten zwei Tage regungs­los ver­brach­te. In einer völ­lig abge­dun­kel­ten Woh­nung lag ich nur da. Unfä­hig, mich zu bewe­gen. Sprach­los. Leer. Ich woll­te allei­ne sein. Nicht, dass ich es bewusst ent­schie­den hät­te oder mir den Raum geben woll­te. Es war ein­fach so. Ich ließ mich berie­seln. Ein Seri­en­ma­ra­thon, von dem ich nichts mit­be­kom­men habe. Ich lag nur da. Eigent­lich war es nicht ein­mal „Ich“, die da lag, es war viel­mehr mein phy­si­scher Kör­per. Er fühl­te sich taub an. Nicht zu mir gehö­rig. Wie mein Mund nach der Anäs­the­sie beim Zahn­arzt. Wenn die­ses Taub­heits­ge­fühl ein­setzt und die eige­ne Zun­ge wie ein Fremd­kör­per im Mund liegt. Nicht dazu­ge­hö­rig. Wie abge­trennt. Das Ein­zi­ge, was ich fühl­te, war mein Herz. Es lag schwer­mü­tig und dun­kel mit­ten in die­ser lee­ren Taub­heit.

Am ers­ten Tag beweg­te ich mich erst­ma­lig am Nach­mit­tag in Rich­tung Bad. Mei­ne Bei­ne waren schwer. Mei­ne Fuß­soh­len brann­ten. In mei­nem Schä­del häm­mer­te es unnach­gie­big. Ich nahm eine Schmerz­ta­blet­te. Sie half gegen die Kopf­schmer­zen, doch mein See­len­schmerz bot mir hart­nä­ckig die Stirn. Wie konn­te etwas Unsicht­ba­res so macht­voll sein … so mäch­tig, dass es in der Lage war, einen lahm zu legen?

Es war für mich das ers­te Mal.

Das ers­te Mal, dass es mir so nahe ging. Das ers­te Mal, dass es jeman­den traf, der mir so nahe stand. Völ­lig uner­war­tet. Mein Blick fiel in den Spie­gel. Mei­ne Augen waren geschwol­len, wie nach einem Box­kampf mit Mike Tyson. Ich hat­te Mühe, die Schlit­ze in der Schwel­lung zu erken­nen. Ich wusch mir mit kal­tem Was­ser das Gesicht. Dann schlepp­te ich mich wie­der in mein Bett, in dem ich die nächs­ten 48 Stun­den ver­brach­te. 48 Stun­den. 2.880 Minu­ten. 172.800 Sekun­den, in denen ich regungs­los im Bett lag.

Nach fast 72 Stun­den Trau­er mit unter­schied­li­chen Facet­ten fühl­te ich mich nicht rich­tig in der Lage, wie­der zu arbei­ten. Ich ver­schob mei­ne Coa­ching-Ter­mi­ne. Mei­ne Kun­den hat­ten Ver­ständ­nis. Ich woll­te mir Zeit geben. Den­noch woll­te ich mich ablen­ken, des­we­gen ent­schied ich mich bewusst, mei­ne Yoga-Kur­se zu hal­ten. Es waren drei. Das wür­de ich schaf­fen.

Ich infor­mier­te mei­ne Kun­den über den Tod mei­ner Freun­din. Da ich ein sehr lebens­lus­ti­ger Mensch bin, wür­de man mir anmer­ken, dass etwas nicht stimmt.

Ich habe mich bewusst ent­schie­den, offen mit mei­ner Trau­er umzu­ge­hen.

Die Reak­tio­nen waren unter­schied­lich. Man­chen sah man ihr Unwohl­sein an. Sie wirk­ten betre­ten, wuss­ten nicht so recht, was sie sagen soll­ten. Ande­re spra­chen mir ihr Mit­ge­fühl aus. Und dann gab es noch die­je­ni­gen, die mir ihr Welt­bild auf­drück­ten mit Sprü­chen wie „Sie wird sich vom Him­mel aus um dich küm­mern und dir noch wei­ter zur Sei­te ste­hen“ oder „Dei­ne Freun­din ist nicht tot, nur ihr Kör­per ist tot. Sie lebt wei­ter!“

Wir haben es nicht gelernt mit Trau­er umzu­ge­hen.

Im Gegen­teil, die Angst vor dem Tod ist bei den meis­ten groß. Angst vor etwas zu haben, was mit abso­lu­ter Sicher­heit ein­tre­ten wird… das ist para­dox… doch Rea­li­tät in unse­rer Welt.

Wenn wir mit dem Tod kon­fron­tiert wer­den, dann brin­gen wir Kalen­der­sprü­che, sind betre­ten, sprach­los. Die wenigs­ten sind mit­füh­lend, wenn sie „ihrem Mit­ge­fühl Aus­druck ver­lei­hen“. Dabei ist es so ein­fach. Die simp­le Fra­ge „Wie kann ich für dich da sein?“ genügt oder eine Umar­mung oder ein­fach nur prä­sent sein. Doch die wenigs­ten kön­nen die Ener­gie ihrer Prä­senz im Ange­sicht des Todes hal­ten. Sie fal­len in sich zusam­men oder bau­en sich über ihre Über­zeu­gun­gen vor einem auf. Wenn es sie aber selbst trifft, dann nutzt der stärks­te Glau­ben nichts. Ich habe es selbst durch­lebt.

Leben und Tod tei­len sich den Moment.

Auch ich glau­be an die Wie­der­ge­burt. Das nimmt mir die Angst vorm Ster­ben. Aber lebe ich noch. Es wird sich alles zei­gen, wenn es so weit ist. Wie alles sich immer erst im jewei­li­gen Moment zeigt. Leben und Tod tei­len sich den Moment. Sie fin­den nur im jewei­li­gen Moment statt. Bereits bei der Geburt, wenn man das Licht des Lebens erblickt, steht der Tod einem zur Sei­te. Wir wis­sen nicht wann, nicht wie und vor allem bekom­men wir kei­ne Ant­wort auf das War­um. Es ist so. Es ist ein kos­mi­sches Gesetz. Es ist ein Natur­ge­setz. So wie es kei­nen Tag ohne Nacht gibt, kein Aus­at­men ohne Ein­at­men, so gibt es kein Leben ohne den Tod. Sie gehö­ren zusam­men. Untrenn­bar zusam­men.

Jetzt. In die­sem Moment. In dem ich die­se Zei­len schrei­be, wird mir bewusst, dass ich zu JEDER Zeit tief ver­bun­den mit mei­nen Gefüh­len war. Im ers­ten Schock, mei­ner Ver­nei­nung, in mei­nem Schmerz, selbst in mei­ner Taub­heit. Ich war ange­bun­den an mei­nen Trau­er-Pro­zess. Ich war in Kon­takt mit allen Facet­ten mei­ner Trau­er. In Ver­bin­dung mit dem, was IST. Was sein darf. Ich habe die Trau­er genau­so durch­lebt, wie sie für mich in Erschei­nung getre­ten ist. Unge­schönt. Mei­ne Gefüh­le waren vor­herr­schend. Unge­bän­digt. Roh. In ihrer gan­zen Natür­lich­keit. Sie woll­ten durch mich aus­ge­drückt wer­den, in all ihren Facet­ten. In ihrer vol­len Band­brei­te woll­ten sie zum Aus­druck kom­men. Gelebt wer­den. In dem Moment. Ohne Zurück­hal­tung. Unver­fälscht. In ihrer gan­zen Kraft.

Mir wird jetzt erst in die­sem Moment bewusst, jetzt, da ich die­se Zei­len auf das Papier brin­ge, wie reich mei­ne bes­te Freun­din mich beschenkt hat. Unse­re Lie­be ist so tief, dass all die Emo­tio­nen, die ich durch­lief, dar­in Platz haben. Dass sie sein dür­fen. Bedin­gungs­los. Ich bin dank­bar, für die­ses Geschenk, dass sie mir zum Abschied gemacht hat. Die Erfah­rung, solch tie­fe Gefüh­le zu durch­le­ben und dar­an nicht zu zer­bre­chen. Die Erfah­rung tie­fer Ver­bun­den­heit in
der Trau­er. Und nicht zuletzt dem tie­fen Gefühl der Gewiss­heit, dass die Trau­er ein Aus­druck mei­ner Lie­be ist.

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Bücher der Autorin:

Digital Leadershit - Die innere Haltung führt zur Wirkung

Über die Autorin:

Amel Lariani

Amel Laria­ni ist Bewussts­eins­coach und Autorin. In den letz­ten zwei Jah­ren hat sie die “embo­di­ed pat­tern release the­ra­py” ent­wi­ckelt, um emo­tio­na­le Blo­cka­den, ver­kör­per­te Trau­ma­ta und Anspan­nun­gen auf phy­si­scher Ebe­ne zu lösen. Sie ist Trä­ge­rin des wis­sen­schaft­li­chen Kurt Lewin Awards für ihr Buch „Digi­tal Lea­ders­hit — die inne­re Hal­tung führt zur Wir­kung.“

Web­site: www.amellariani.com

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