Frau atmet

Atme in Deiner Form

Atem­mus­ter | Wer sich selbst kennt, kann tun, was er will

Mar­co Ger­hards

Ken­nen Sie das? Sie sit­zen vor einem Bild­schirm und der Nacken spannt. Die geläu­fi­ge Reak­ti­on dar­auf ist Ärger oder Unzu­frie­den­heit. In der Regel über sich selbst; dass man näm­lich die Bild­schirm­ar­beit als ursäch­lich für die­se Ver­span­nun­gen und die eige­ne Unfä­hig­keit, etwas ande­res zu tun, kri­ti­siert. Doch was wäre, wenn der Bild­schirm nichts damit zu tun hät­te, son­dern nur das eige­ne Ver­hal­ten?

Die Aus­rich­tung des Bild­schirms nimmt Ein­fluss auf unse­re Atmung

Rich­ten Sie doch ein­mal die Auf­merk­sam­keit auf die eige­ne Aus­rich­tung, die per­sön­li­che Ein­stel­lung und die Art und Wei­se, wie Sie den Kopf gegen­über dem Bild­schirm posi­tio­nie­ren.

Tat­säch­lich wis­sen die wenigs­ten Men­schen, dass jeder Ein­zel­ne unter­schied­li­che bio­me­cha­ni­sche Vor­aus­set­zun­gen mit­bringt, eine unter­schied­li­che Form des Kör­pers, die ent­spre­chend indi­vi­du­ell ange­spro­chen wer­den will; sodass also nicht der Bild­schirm an sich, son­dern der Blick­win­kel auf die­sen ent­schei­dend wird. Las­sen Sie uns dazu ein Expe­ri­ment machen mit der Fra­ge: Unter oder über dem Hori­zont?

Unter oder über dem Hori­zont?

Set­zen Sie sich vor einen Com­pu­ter-Bild­schirm oder bloß an einen Tisch und stel­len Sie sich dabei vor, Sie säßen vor einem Com­pu­ter. Wo steht der Bild­schirm, wie bli­cken Sie auf die­sen? Ach­ten Sie dabei auf das Gelenk, das den obers­ten Hals­wir­bel mit dem Schä­del ver­bin­det. Stel­len Sie es zunächst der­ge­stalt ein, dass der Blick gera­de aus nach vor­ne geht. So, dass die Augen dem Schä­del fol­gen und nicht mit­be­wegt wer­den müs­sen. Dies ist die Mit­tel­po­si­ti­on oder soge­nann­te Null­stel­lung. Jetzt pro­bie­ren Sie in die­sem Gelenk, das die Wir­bel­säu­le und den Schä­del mit­ein­an­der ver­bin­det, Vor­wärts- und Rück­wärts­be­we­gun­gen aus, sodass der Blick dann auto­ma­tisch nach unten oder oben fällt. Spie­len Sie damit und machen Sie sich bewusst, dass Sie in die­sem Gelenk den Blick­win­kel ein­stel­len kön­nen, der zu Ihrem Bild­schirm führt. Wel­cher Win­kel ist Ihnen am Liebs­ten, wohin schau­en Sie bevor­zugt?

Pro­bie­ren Sie dann bewusst die fol­gen­den zwei Optio­nen aus. Ers­tens: rich­ten Sie die Wir­bel­säu­le auf, heben Sie leicht den Brust­korb und nei­gen Sie den Kopf im Hals-Schä­del-Gelenk leicht nach hin­ten, sodass Sie ein paar Grad über den Hori­zont bli­cken kön­nen. Fra­gen Sie sich dann: wie lässt es sich mit einer Blick­rich­tung knapp über den Hori­zont ein­at­men? Und wie lässt es sich aus­at­men?

Opti­on Zwei: Fixie­ren Sie den Brust­korb und geben Sie das Gewicht an den Stuhl ab. Dann beu­gen Sie das Hals-Schä­del-Gelenk leicht nach vor­ne, sodass Sie ein paar Grad unter den Hori­zont bli­cken kön­nen. Wie atmet es sich mit die­ser Blick­rich­tung ein? Und wie aus?

Kön­nen Sie spü­ren, wel­che Aus­wir­kun­gen Ihr Blick(winkel) auf den Moni­tor auf Ihre Atmung hat, wel­che Posi­ti­on für die eine Form der Atmung för­der­lich und für die ande­re hin­der­lich ist? Und kön­nen Sie auch wahr­neh­men, wel­che der bei­den Posi­tio­nen für Sie ange­neh­mer, natür­li­cher, leich­ter zu sein scheint?

Die zwei ver­brei­te­ten Atem­for­men

Wor­über wir spre­chen, ist zunächst kei­ne Sache des Spü­rens, son­dern der Kör­per-Phy­sik. Wird der Hin­ter­kopf leicht nach hin­ten geneigt, wer­den die Mus­keln, die der Wei­tung im Brust­be­reich Raum geben, ange­spro­chen – die Ein­at­mung gelingt leich­ter. Wird hin­ge­gen der Kopf leicht nach vor­ne geneigt, das Kinn Rich­tung Brust­korb gedrückt, behin­dert dies die Ein­a­tem­mus­ku­la­tur, för­dert statt­des­sen die den Rumpf ver­en­gen­den Aus­atem­mus­keln, sodass die Aus­at­mung leich­ter gelingt.

War­um ist es wich­tig zu wis­sen, wel­che Aus­wir­kun­gen die Kopf­po­si­ti­on auf die Atmung hat? Weil jeder Mensch eine bestimm­te Atmung bevor­zugt – und dem­entspre­chend sei­nen Kör­per dar­auf ein­stel­len soll­te. Oder anders for­mu­liert:

Jeder Mensch atmet; doch der Mensch kennt zwei Atem­for­men. Die akti­ve Ein- und pas­si­ve Aus­at­mung (die Form der domi­nan­ten Ein­at­mung) oder die pas­si­ve Ein- und akti­ve Aus­at­mung (die Form der domi­nan­ten Aus­at­mung).

Die mensch­li­che Atem­form bestimmt das opti­ma­le Ver­hal­ten

Die­se Atem­for­men sind leicht wahr­zu­neh­men und selbst­ver­ständ­lich. Sie beein­flus­sen Kör­per­hal­tung, Bewe­gungs­ver­hal­ten und den Stoff­wech­sel. Sie sind ein wich­ti­ges Hilfs­mit­tel der Selbst­er­kennt­nis und der per­sön­li­chen Ent­wick­lung. Je kla­rer man die Atem­for­men in das all­täg­li­che Bewe­gungs- und Lebens­ver­hal­ten inte­grie­ren kann, umso authen­ti­scher und natür­li­cher wird der Kör­per reagie­ren. Voll­stän­di­ges Atmen hilft, opti­miert den Stoff­wech­sel und unter­stützt das Sys­tem des natür­li­chen Gleich­ge­wichts maß­geb­lich. Und löst oben­drein die Ver­span­nun­gen im Hals. Denn damit stellt man sei­nen Kör­per opti­mal auf die eige­nen Bedürf­nis­se ein. Ein Prin­zip, das in der Natur andau­ernd ange­wandt wird.

Wer sei­ner Kon­di­ti­on Rech­nung trägt, lebt bes­ser. Wer schnell arbei­ten­de Mus­keln besitzt, der jagt sei­ne Beu­te. Wer flin­ke Hän­de hat und Net­ze bau­en kann, fängt sei­ne Beu­te auf die­se Wei­se, um sein Über­le­ben zu sichern. Ver­sucht ein Netz­bau­er ein Jäger zu sein, wird er sich schwe­rer tun.

Auch die mensch­li­che Atem­form bestimmt das opti­ma­le Ver­hal­ten. Lebe ich form­ge­recht, stel­len sich Gesund­heit und Wohl­be­fin­den, im Min­des­ten ein homöo­sta­ti­scher Rhyth­mus der gesam­ten Phy­sio­lo­gie ein. Lebe ich form­wid­rig, wird dies mit Leis­tungs­ab­fall und Krank­heit von der Natur beant­wor­tet.

War­um soll­te man über­haupt wider sei­ner vor­ge­ge­be­nen Form leben? Die Natur hat doch gar nicht vor­ge­se­hen, dass man gegen die eige­ne Kör­per­kon­sti­tu­ti­on, gegen die per­sön­li­chen Vor­aus­set­zun­gen des Lebens intri­giert. Gleich­wohl sind Men­schen auf­grund ihrer Will­kür dazu in der Lage. Dies geschieht zumeist unbe­wusst, dafür aber umso häu­fi­ger: „Atme in den Brust­korb!“ „Atme immer in den Bauch!“ „Hal­te den Nacken lang, zie­he das Kinn leicht zur Brust!“ „Trin­ke so und so viel Liter Was­ser am Tag!“. Die­se „Befeh­le“ oder „Anwei­sun­gen“ wer­den in der Kind­heit nur wider­wil­lig befolgt, doch im wei­te­ren Ver­lauf der Ent­wick­lung, beson­ders im Jugend- und Erwach­se­nen­al­ter, sind Men­schen bereit, der­lei Anre­gun­gen zu befol­gen – wider bes­se­ren Emp­fin­dens und wider bes­se­ren Füh­lens.

Des­we­gen kann man mit dem Wis­sen über die Atem­for­men ein­fa­che und prak­ti­sche Hin­wei­se geben, wel­ches Ver­hal­ten sich bei wel­cher Form anbie­tet, was für den ein­zel­nen Men­schen genau das Rich­ti­ge, das Opti­ma­le ist. Vie­len die­ser Hin­wei­se folgt man bereits auto­ma­tisch, ohne Wis­sen dar­über zu besit­zen. Es ist in dem Fall die logi­sche Fol­ge der eige­nen Kon­sti­tu­ti­on, die nicht gestört wur­de. Die meis­ten Men­schen rea­li­sie­ren aber auch, dass sie bestimm­te, schäd­li­che Ver­hal­tens­wei­sen zu frü­he­ren Zei­ten ihres Lebens nur ungern oder beson­ders unbe­wusst über­nom­men haben.

Das eige­ne Atem­mus­ter aner­ken­nen

Gene­rell gilt: Die Kör­per­struk­tu­ren sind vom ers­ten Atem­mo­ment an dar­auf aus­ge­rich­tet, dem eige­nen Rhyth­mus zu fol­gen, der bio­me­cha­ni­schen Logik der Atem­for­men gerecht zu wer­den. Sie sind jeder­zeit erfahr­bar und unab­ding­bar.

Der Kör­per ist ent­we­der in Expan­si­ons- oder Kon­trak­ti­ons­be­reit­schaft und kann zwi­schen die­sen bei­den Polen nicht wech­seln oder bestimm­te Aspek­te des einen über­neh­men und ande­re nicht.

Die Ein­a­tem­form folgt der Aus­deh­nung und rich­tet sich in die Wei­te auf. Men­schen mit die­ser Form füh­ren mit dem Brust­korb die Bewe­gun­gen und sta­bi­li­sie­ren sich im Becken; sie heben den Blick über den Hori­zont, stre­cken ihre Knie und Ellen­bo­gen, benö­ti­gen Deh­nun­gen und Wei­te.

Die Aus­atem­form folgt dem Prin­zip der Ver­en­gung und ori­en­tiert sich stets zum Boden, zur Erde. Men­schen mit die­ser Form füh­ren mit dem Becken die Bewe­gun­gen und sta­bi­li­sie­ren sie im Brust­korb; sie hal­ten den Nacken lang und den Blick eher unter den Hori­zont. Sie benö­ti­gen das kraft­vol­le Atmen im Bauch.

Die­se gene­rel­len Mus­ter gilt es, zunächst anzu­er­ken­nen. Dies gelingt mit Hil­fe von ein­fa­chen Wahr­neh­mungs­übun­gen beson­ders gut. Sie ver­mit­teln das logi­sche Prin­zip der Atem­for­men, um das grund­le­gen­de Ver­ständ­nis der natür­li­chen Rhyth­men des Kör­pers zu begrei­fen. Sie sind so natür­lich wie Gefüh­le, so natür­lich wie ein Glücks­mo­ment, um den es im Fol­gen­den gehen soll.

Das Glücks­expe­ri­ment: Wel­che ist Ihre Atem­form?

Das Glück ist nicht zu kau­fen, man kann damit spie­len, es auch erin­nern und damit repro­du­zie­ren. Den­ken Sie an einen glück­li­chen Moment zurück. Oder vor­aus. Oder neh­men Sie den jet­zi­gen Moment als glück­li­chen und erfül­len­den Moment wahr. Genie­ßen Sie ihn, tau­chen Sie ein ins Glück, egal, wie unglück­lich oder glück­lich Sie gera­de ver­meint­lich sind. Jetzt ist ein Moment abso­lu­ten Genie­ßens, ein Moment der Freu­de, die bedeu­ten­de Nach­richt einer Geburt oder Hei­rat, das beson­de­re Fun­keln in den Augen Ihres Part­ners, als Sie ihn ken­nen­lern­ten, der Anblick eines alten und majes­tä­ti­schen Bau­mes oder der einer pral­len Pfingst­ro­se. Wenn Sie jetzt in Glücks­zu­stän­de ein­tau­chen, in ihnen ver­wei­len, sich gehen und herz­er­wärmt trei­ben las­sen – wie ver­wei­len Sie dann in Ihrem Glück am liebs­ten?

Domi­nant ein­at­mend oder domi­nant aus­at­mend?

Den bio­lo­gi­schen Bedin­gun­gen Rech­nung tra­gen

Wenn Sie wis­sen, wie Sie atmen, kön­nen Sie das tun, was Sie wol­len – ohne geis­ti­gen Mani­pu­la­tio­nen unter­wor­fen zu sein, die nicht der eige­nen Atem­form oder ande­ren bio­lo­gi­schen Bedin­gun­gen Rech­nung tra­gen. Ansons­ten kommt es zu Über­las­tungs- oder Erschöp­fungs­sym­pto­men.

In der Gym­nas­tik und im Sport kann man dies beson­ders beob­ach­ten. Denn dort steht die bio­me­cha­ni­sche Natur des Kör­pers im Mit­tel­punkt, ist die opti­ma­le Nut­zung der phy­sio­lo­gi­schen Fähig­kei­ten Vor­aus­set­zung für den Erfolg.

Je effek­ti­ver und effi­zi­en­ter man sich bewe­gen will, umso mehr pro­fi­tiert man vom Wis­sen über sei­ne Atem­form und för­dert damit die eige­ne Lebens­en­er­gie.

Erfolg­rei­che Sport­ler bele­gen dies. Ein außer­ge­wöhn­li­ches Bei­spiel und Abbild der intui­tiv opti­mal genutz­ten Atem­form ist der berühm­te Fuß­ball­spie­ler Cris­tia­no Ronal­do. Blickt man auf sein Bewe­gungs­ver­hal­ten, erkennt man den sehr sel­te­nen Fall von nahe­zu voll­stän­di­ger Form­rein­heit, ein dem Atem kon­se­quent fol­gen­des Bewe­gungs­ver­hal­ten, wel­ches sonst nur Kin­der bis zu einem Alter von drei bis sechs Jah­ren in die­ser Form besit­zen. Dass er sel­ten ver­letzt und sehr erfolg­reich sei­nen Beruf aus­üben kann, ver­wun­dert aus Sicht der Atem­for­men nicht. Sein mar­kan­ter, sei­nem Wesen cha­rak­te­ris­ti­scher Tor­ju­bel, durch Über­stre­ckung des Rückens, des voll­stän­di­gen Durch­drü­ckens der Zen­tral­ge­len­ke in den Armen und Bei­nen, und des Nach-hin­ten-Wer­fens des Kop­fes geben eine ein­drucks­vol­le Zur­schau­stel­lung preis.

Fazit

Atmen Sie auch in Ihrer Form, pro­fi­tie­ren Sie ent­spre­chend davon. Viel­leicht wer­den Sie kein erfolg­rei­cher Sport­ler, aber mit Sicher­heit leben und bewe­gen Sie sich in einem Kör­per, des­sen Erfolg die voll­stän­di­ge Wert­schät­zung der eige­nen Kon­sti­tu­ti­on ist. Der größ­te Gewinn, den es für einen sich bewe­gen­den Men­schen gibt.

healthstyle

Bücher des Autors:

Die Atemformen beim Menschen Body Reading Die Atemformen

Über den Autor:

Marco Gerhards

Mar­co Ger­hards ist staat­lich aner­kann­ter Sport- und Gym­nas­tik­leh­rer mit zahl­rei­chen Zusatz­aus­bil­dun­gen – u.a. in Kom­mu­ni­ka­ti­ons­me­tho­den, Men­tal­trai­ning, Tanz­päd­ago­gik, Bewe­gungs­the­ra­pie – und hat ein abge­schlos­se­nes Magis­ter­stu­di­um in bio­lo­gi­scher Anthro­po­lo­gie, neue­rer Geschich­te und Medi­zin­ge­schich­te. Er arbei­tet als wis­sen­schaft­li­cher Autor, Dozent in der Aus- und Fort­bil­dung sowie als selbst­stän­di­ger Kör­per­the­ra­peut. Er lebt im Frei­bur­ger Raum und bie­tet Semi­na­re und Ein­zel­sit­zun­gen an, um die Atem­for­men ken­nen­zu­ler­nen und sie opti­mal in All­tag und Beruf zu inte­grie­ren.

Kon­takt:
www.body-reading.de

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