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Lore Sülwald
Stress bei hochsensiblen Kindern mit ausgeprägter Sinneswahrnehmung
In meinem Artikel über Hochsensibilität bei Kindern im healthstyle Magazin (Ausgaben 02/2025 und 03/2025) habe ich bereits ausführlich über Hochsensibilität geschrieben und auch darüber, wie Sie als Eltern gute Vorbilder sein und einen sicheren Rahmen für die Persönlichkeitsentwicklung bieten können.
Was bedeutet sensorische Sensibilität bei hochsensiblen Kindern?
In diesem Beitrag möchte ich nun auf die spezifischen Herausforderungen eingehen, wenn hochsensible Kinder eine sehr hohe sensorische Sensibilität, d.h. eine körperliche Sensibilität, haben und was dies für ihr Stresserleben bedeutet. Wie können Sie als Eltern Ihre Kinder mit einer intensiven Wahrnehmung der Welt optimal unterstützen?
Hochsensibilität bei Kindern: Merkmale und Auswirkungen
Bevor ich auf die Bedeutung von sensorischer Sensibilität eingehe und anhand von Beispielen erkläre, wie sich dies im Alltag zeigen kann, möchte ich noch auf Hochsensibilität allgemein kurz eingehen.
Hochsensibilität ist ein Merkmal, das viele Menschen (ca. 30% der Bevölkerung) betrifft und unterschiedliche Facetten der Wahrnehmung und Verarbeitung von Informationen umfasst. Bei Kindern mit ausgeprägter sensorischer Sensibilität können die Herausforderungen besonders groß sein, da sie die Welt mit einem sehr empfindsamen Nervensystem erleben.
"Sensitive Menschen haben ein zentrales Nervensystem, welches Erfahrungen rascher und tiefer registriert." (Aron, Belsky, Belsky & Pluess)
Typische Merkmale hochsensibler Kinder
Hochsensibilität ist ein Temperamentsmerkmal, das sich in verschiedenen Bereichen der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung bemerkbar macht. Es gibt eine Reihe von Merkmalen, die hochsensible Menschen auszeichnen:
- Erhöhte Wahrnehmung der Umwelt: Hochsensible Kinder nehmen ihre Umwelt intensiver wahr als andere Kinder. Sie bemerken Details, die anderen entgehen – sei es das flackernde Licht einer Lampe oder der Geruch eines bestimmten Parfüms. Dies führt zu einer intensiveren Verarbeitung von Umweltreizen.
- Erhöhte Wahrnehmung von Reizen (sensorische Sensibilität): Die fünf klassischen Sinne Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Tasten sind bei hochsensiblen Kindern oft stärker ausgeprägt. Aber auch erweiterte Sinne wie Temperaturempfinden, Schmerzempfinden und Gleichgewichtssinn können intensiver erlebt werden.
- Größere emotionale Reaktivität: Hochsensible Kinder reagieren emotional intensiver auf äußere Reize. Ein scheinbar harmloser Konflikt kann bei ihnen starke Gefühle wie Trauer oder Wut auslösen. Ihre Emotionen sind oft tief und komplex, was sie zu sensiblen und verletzlichen Kindern macht.
- Tiefere und komplexere Verarbeitung von Eindrücken: Diese Kinder denken oft intensiver über ihre Erfahrungen nach. Sie durchdringen und hinterfragen Ereignisse und Situationen mehr als andere, was dazu führt, dass sie manchmal als „übermäßig nachdenklich“ wahrgenommen werden.
- Hohe Empathiefähigkeit: Hochsensible Kinder können die Gefühle anderer sehr gut wahrnehmen und darauf reagieren. Sie zeigen oft ein außergewöhnliches Einfühlungsvermögen, das sie zu besonders mitfühlenden und fürsorglichen Kindern macht.
- Höhere Stressanfälligkeit: Durch die intensivere Wahrnehmung und Verarbeitung von Reizen sind hochsensible Kinder oft anfälliger für Stress. Sie nehmen mehr Reize wahr, was ihren Stresspegel oft erhöht.
- Tendenz, sich in Situationen mit hohem Reizgehalt überfordert zu fühlen: Hochsensible Kinder haben oft Schwierigkeiten in stark stimulierenden Umgebungen, seien es laute Geräusche, große Menschenmengen oder ungewohnte, aufregende Situationen. Dies kann zu Überforderung und damit zu Stress führen.
Was ist sensorische Sensibilität? Eine tiefere Betrachtung.
Sensorische Sensibilität bedeutet körperliche Sensibilität. Das bedeutet, dass diese Kinder über alle Körpersinne mehr Reize bewusst wahrnehmen und diese tiefer verarbeiten.
Die sensorische Sensibilität umfasst dabei die 5 Körpersinne
- Sehsinn
- Hörsinn
- Geschmackssinn
- Tastsinn
- Geruchssinn
Zudem beachtet die moderne Psychologie noch die erweiterten 4 Sinne
- Temperatursinn
- Schmerzempfindung
- Gleichgewichtssinn
- Körperempfindung
Wie sich sensorische Sensibilität im Alltag äußern kann und was es für das Erleben der Kinder bedeutet
Mütter haben mir erzählt, dass ihre hochsensiblen Babys ununterbrochen schreien, wenn sie die falsche Kleidung tragen. Dass sie ihren Babys nur Kleidung ohne Nähte und aus bestimmten Materialien anziehen konnten. Dies ist ein typisches Beispiel dafür, dass hochsensible Kinder einen sehr ausgeprägten Tastsinn haben. Dann können Materialien wie Wolle schnell kratzen oder Kunstfasern ein unangenehmes Gefühl auf der Haut auslösen. Nichts darf scheuern oder drücken, z.B. Etiketten in der Kleidung, Nähte, zu enge Kleidung, aber auch zu weite Kleidung, die an den falschen Stellen Falten wirft, kann sehr unangenehm sein.
Stressreaktionen durch Reizüberflutung
Bei hochsensiblen Menschen ist das Verhältnis zwischen Reiz und Reizverarbeitung anders als bei anderen Menschen. So wird nicht nur jeder Reiz intensiver wahrgenommen, sondern auch die Reizverarbeitung ist viel intensiver. Diese intensive Wahrnehmung, z.B. eines unangenehmen Stoffes auf der Haut, geht weit über das Gefühl des Unbehagens hinaus und löst dadurch im Körpersystem großen Stress aus. Das kann so weit gehen, dass dieser Reiz Übelkeit oder Schmerzen auslöst. Das Kind kann sich nicht mehr konzentrieren und wenn der Reiz anhält, wie es bei Kleidung der Fall ist, kann es dazu führen, dass der Cortisolspiegel, also das Langzeitstresshormon, ansteigt. Dadurch wird das Kind immer gereizter und jeder weitere Reiz trifft auf ein bereits angespanntes Nervensystem und löst noch mehr Stress aus. Der Adrenalinspiegel steigt weiter an und das Kind kann in einen Überlebensmodus verfallen. In diesem Modus ist die Konzentrationsfähigkeit eingeschränkt, die inneren Körperaktivitäten beschränken sich auf das Wesentliche und das Kind ist emotional aufgewühlt. Entspannung und Beruhigung sind in diesem Ausnahmezustand sehr schwierig und können als zusätzlicher Stress empfunden werden, auch wenn der allgemeine Stresspegel bereits über einen längeren Zeitraum anhält.
Diese Überreizung kann sich bei Kleinkindern in Aggression, Weinen, Rückzug, Vermeidung, Hilflosigkeit oder Angst äußern. Für Kinder ist es schwierig, den Auslöser für diesen Stress zu erkennen, sie sind einfach überwältigt und ausgeliefert.
Gerade Säuglinge und Kleinkinder sind auf das Verständnis ihrer Eltern und der Erwachsenen in ihrer Umgebung angewiesen.
Nach dem Trubel: Warum hochsensible Kinder Zeit zur Verarbeitung brauchen
So kann es sein, dass Ihr Kind nach dem Kindergarten oder der Schule völlig überfordert ist und erst einmal Zeit und Raum braucht, um zur Ruhe zu kommen und alle Eindrücke körperlich, geistig und emotional zu verarbeiten. Sport oder andere Freizeitaktivitäten können bei besonders sensiblen Kindern zusätzlichen Stress erzeugen, da sie hier so vielen Reizen ausgesetzt sind und dann noch alle sozialen und emotionalen Aspekte dazu kommen. (Mehr dazu in meinem Artikel Hochsensibilität bei Kindern. Als Eltern gute Vorbilder sein und einen sicheren Rahmen für die Persönlichkeitsentwicklung bieten, healthstyle Ausgaben 02/2025 und 03/2025)
Individuelle Sinneswahrnehmung erkennen und verstehen
Hochsensible Kinder können auf allen Sinneskanälen besonders sensibel sein. Dabei kann es sich um ein "Entweder-oder" oder um ein "Sowohl-als-auch" handeln. Das heißt, Ihr Kind kann in einem Bereich besonders sensibel und begabt sein, oder es kann auf allen Sinneskanälen die volle Bandbreite an Reizen aufnehmen. Es ist sehr sinnvoll, das Kind gut zu beobachten und immer wieder zu schauen, in welchen Bereichen die Sensibilität stark ausgeprägt ist. So können Sie im Alltag besser auf Ihr Kind eingehen und besser verstehen, welchen Belastungen Ihr Kind ausgesetzt ist. Im Folgenden möchte ich noch ein paar Beispiele für die verschiedenen Sinneskanäle nennen.
Die Auswirkungen von empfindlichem Gehör auf Konzentration und Wohlbefinden
Zum Beispiel kann das Gehör sehr gut entwickelt sein, was ein absolutes Gehör bedeuten kann. Es kann aber auch sein, dass das Kind sehr feine Töne wahrnehmen kann und diese intensiver und lauter wahrnimmt als andere. Es kann auch sein, dass es Töne in einem bestimmten oder sehr breiten Spektrum wahrnehmen kann. Auch hier können bestimmte Töne körperliches Unwohlsein und Stress auslösen oder zu starker Ablenkung und Konzentrationsschwäche führen. Während andere Kinder sich gut konzentrieren können, kann sich Ihr Kind in der Schule nicht konzentrieren, weil das Kratzen des Stiftes am Nachbartisch so laut ist und ablenkt. Oder das Geräusch des Stiftes auf dem Papier verursacht körperliche Schmerzen (wie früher das Geräusch der Kreide auf der Tafel). Für weniger empfindliche Kinder mag dies ein störendes Geräusch sein, aber es hat nicht so große Auswirkungen auf das allgemeine Wohlbefinden und die Konzentrationsfähigkeit des Kindes.
Einflüsse von Licht, Farben und ästhetischen Umgebungen auf hochsensible Kinder
Auch im Bereich des Sehsinns können Licht oder bestimmte Farben als sehr störend empfunden werden. So können Farben und Muster Schwindel und Unwohlsein auslösen. Oder Räume, die entweder sehr unordentlich oder sehr unruhig eingerichtet sind, lösen beim Kind große Unruhe aus. Farben können auch buchstäblich als schreiend empfunden werden. Natürlich können auch Synästhesien eine Rolle spielen. Das bedeutet, dass die Sinne miteinander verbunden sind. Die bekannteste Synästhesie ist das farbige Sehen von Buchstaben oder Zahlen. Aber auch Töne können gesehen oder gefühlt werden. Es gibt viele räumliche, dreidimensionale Synästhesien. Ich denke, die Wahrscheinlichkeit ist recht hoch, dass Menschen mit einer hohen sensorischen Sensibilität auch Synästhetiker sind. Unter diesem Aspekt ist es vielleicht noch verständlicher, dass Disharmonien in der Ästhetik große Nervosität auslösen können. Insgesamt berichten mir hochsensible Menschen immer wieder, wie unwohl sie sich in einer Umgebung fühlen, die nicht harmonisch und ästhetisch ist. Generell bevorzugen Hochsensible natürliche Materialien, Formen, Farben, Düfte und Licht. Kinder profitieren sehr vom Aufenthalt an der frischen Luft und in der Natur. Grelles Sonnenlicht kann diese Kinder mit ihrem ausgeprägten Sehsinn jedoch stärker blenden als andere.
Ernährung und Essverhalten bei hochsensiblen Kindern
Hochsensible Kinder können sehr wählerische Esser sein. Da ihr Geruchs- und Geschmackssinn sehr ausgeprägt sein kann, können sie bestimmte Lebensmittel, ihre Konsistenz oder ihren Geschmack schnell als ekelerregend empfinden. Viele dieser Kinder reagieren auch empfindlich auf Lebensmittel. Ist das Kind insgesamt gestresst, ist natürlich auch die Nahrungsaufnahme und Verdauung davon betroffen und kann leicht aus dem Gleichgewicht geraten. Auch hier ist es ratsam, auf gesunde, unverarbeitete Lebensmittel und viel frisches Gemüse und Obst zu achten. Feste Zeiten und Rituale helfen den Kindern, sich beim Essen zu entspannen. Bei hochsensiblen Kindern (auch bei Erwachsenen) kann der Blutzuckerspiegel schnell abfallen. Regelmäßige Mahlzeiten und kleine Zwischenmahlzeiten oder Snacks sind daher sehr empfehlenswert, um ein ausgeglichenes und glückliches Kind an seiner Seite zu haben.
Die positive Seite der sensorischen Sensibilität: Glücksmomente und tiefes Erleben
An dieser Stelle möchte ich noch einmal betonen, dass diese ausgeprägte sensorische Sensibilität in beide Richtungen gehen kann. Sie kann für Kind und Eltern sehr anstrengend sein, aber auch wunderbare Eigenschaften, Fähigkeiten und Momente hervorbringen. So können diese Kinder im Frühling olfaktorische Glücksmomente erleben, da sie alle Blütendüfte intensiv wahrnehmen. Oder sie können vor einem unangenehmen Geruch schreiend und angewidert davonlaufen. Durch ihr intensives Erleben können diese Kinder auch sehr leicht intensives Glück empfinden, wenn sie einen Marienkäfer auf einer Blüte beobachten. Sie sind sehr fantasievoll und haben ein tiefes Erleben, auch von Glück. Momente in der Natur oder mit Tieren können sie tief berühren. Aber auch Kunst und Musik können sie tief bewegen. All das wirkt noch lange nach. Diese Kinder haben ein reiches Erleben und ein reiches Innenleben.
Wie Eltern hochsensible Kinder stärken können – kompakt zusammengefasst:
- Sichere und reizarme Umgebung schaffen: Struktur, Ruhe und Rückzugsorte geben dem Kind Sicherheit und helfen, Reizüberflutung zu vermeiden.
- Feinfühlig zuhören und begleiten: Nehmen Sie das Erleben Ihres Kindes ernst, zeigen Sie Verständnis und Geduld – das schafft Vertrauen.
- Stressquellen erkennen und minimieren: Beobachten Sie aufmerksam, was Ihr Kind überfordert, und passen Sie Alltag und Aktivitäten entsprechend an.
- Rituale, Ruhe und Bewegung fördern: Regelmäßige Abläufe und entspannende Aktivitäten wie Naturaufenthalte oder sanfter Sport unterstützen das emotionale Gleichgewicht.
- Stärken und Besonderheiten wertschätzen: Ermutigen Sie Ihr Kind, seine Wahrnehmung als Gabe zu sehen – durch liebevolle Kommunikation und wertschätzende Haltung.
Fazit: Hochsensible Kinder verstehen und liebevoll begleiten
Hochsensible Kinder mit ausgeprägter sensorischer Sensibilität erleben die Welt auf eine tiefgreifende, oft überwältigende Weise. Ihre intensive Wahrnehmung körperlicher Reize führt dazu, dass sie alltägliche Situationen nicht selten als hochgradig stressbeladen empfinden – sei es durch kratzende Kleidung, laute Geräusche, grelles Licht oder intensive Gerüche. Was für andere Kinder kaum spürbar ist, kann für sie zur körperlichen und emotionalen Belastung werden.
Eltern stehen hier vor der Herausforderung, das innere Erleben ihres Kindes zu verstehen und liebevoll zu begleiten. Es braucht Aufmerksamkeit, Geduld und ein feinfühliges Gespür für die oft verborgenen Stressquellen. Wenn Eltern es schaffen, das kindliche Verhalten nicht vorschnell zu bewerten, sondern als Ausdruck innerer Überforderung zu sehen, können sie ein Umfeld schaffen, in dem das Kind sich sicher und angenommen fühlt.
Ein strukturierter Alltag, ein geschützter Rückzugsort, regelmäßige Ruhephasen, sanfte Berührungen und ein respektvoller Umgang mit den Sinnesgrenzen des Kindes sind zentrale Bausteine für mehr Wohlbefinden. Gleichzeitig sollten Eltern auch die positive Seite dieser besonderen Wahrnehmung nicht aus dem Blick verlieren: das intensive Erleben von Freude, Schönheit, Natur, Musik und Emotionen. Denn inmitten aller Herausforderungen liegt auch ein großer Schatz.
Hochsensible Kinder brauchen keine perfekte Welt – sie brauchen Menschen, die ihre Welt verstehen.
healthstyle
Über die Autorin Lore Sülwald:

● Expertin für Hochsensibilität
● zertifizierte systemische Coach (dvct)
● Vorträge, Seminare und Weiterbildung
Webseite: www.sensibilitaet-macht-stark.de
Beitragsbild: © Владимир Берзин auf Pixabay
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